6. Kapitel: Filterkaffee und Frittierfett


Wie lange waren sie wohl bereits gelaufen? Magdalena wusste es nicht.
Die Tunnel erstreckten sich endlos in der Dunkelheit und ihr war, als könnte sie die feucht muffige Luft auf der Zunge schmecken. Der Untergrund war unebener geworden und sie mussten  gelegentlich über Geröll und Schutt klettern, der ihnen den Weg versperrte.
Bald begannen ihre Füße zu schmerzen und ihre Hände rau vom trockenen Staub zu werden, der sie umgab und in Magdalenas Kopf formte sich eine wage Ahnung zu einem greifbaren Gedanken, dass dieser Ausflug vielleicht eine doch ganz dumme Idee gewesen war.
Selten gab es ausreichend Licht und Magdalena mochte gar nicht daran denken, was sie neben der dicken Staubschicht nicht noch alles aufwirbelten und weckten. Als sie besonders lange geklettert waren, ließ sich Magdalena an Ort und Stelle auf den Boden nieder und griff nach Ingas Hand.
"Wir sind doch bestimmt schon seit Ewigkeiten hier unten, oder?", sagte sie mit belegter Stimme und
 wartete mit klopfendem Herzen auf die Antwort. Die kam prompt, denn Mandelkern sagte:"Wir sind seit einer halben Stunde hier, Prinzessin. Wird noch eine Weile dauern."
"Oh." Hastig ließ sich Magdalena auf die Füße ziehen.

Mandelkern leitete sie mit bemerkenswertem Orientierungssinn durch den Tunnel, der immer mehr einem Stollen glich. Magdalena und Inga waren sich einig, dass dies wohl mit seiner biologischen Komponente als Nagetier zusammen hing und kicherten, als er ihnen beleidigte Blicke zuwarf und etwas von Undankbarkeit und Diskriminierung in seine Hamsterbacken murrte.
Frau D'uissi unterdessen erklärte ihnen, wie die Stollen ihrer Familie vor geraumer Zeit zu ihrem jetzigen Reichtum verholfen hatten. Die dicke Frau bewegte sich erstaunlich behände auf dem steinigen Untergrund. Andererseits waren Steine auch ihr Metier.
"Damals hat Fritzel Krupp, mein Urgroßvater, meiner Urgroßmutter Agathe noch den Hof gemacht und ihr Blumen über diese Wege geschickt," sagte sie mit leicht entrücktem Blick und geröteten Wangen.
"Mhm." Magdalena hörte nur mit dem halben Ohr zu. Der Tunnel wandte sich mit einem Mal in einer einzigen Kurve nach rechts und schraubte sich in die Tiefe, denn plötzlich schlug ihnen eisig kalte Luft entgegen. Nach wenigen Metern blendete sie grelles Licht und Magdalena legte schützend eine Hand über ihre Augen. Nach und nach hob sie sie und blickte zuerst etwas überrascht auf den Untergrund; er war mit rot-braunen Fliesen gekachelt. Sie hob den Blick, wartete, bis sich ihre Augen an das plötzlich helle Licht gewöhnt hatten und sah sich um.
Sie standen in einer langgezogenen Halle, die mit den Tunneln nichts mehr gemein hatte. Eine Plattform erstreckte sich bis an ihr Ende, links und rechts davon lagen auf leicht abgeflachter Ebene Schienen im feinen Gesteinsbett. Sie verliefen sich gähnende Löcher schwarzen und zugig kalten Nichts. "Ein Bahnhof!", rief Magdalena aus. "Haben dir das die Schienen verraten oder etwa doch das Schild?", fragte Mandelkern. 
Eine Treppe schraubte sich in die Höhe und verlor sich in der rot gekachelten Decke. An sie gelehnt standen Bänke und Informationstafeln.
Ein ungeschickt orange-roten Farbverlauf, der zu einer anderen Zeit modern gewesen war, zierte die Wände. Magdalena wollte sich gar nicht ausmalen, wann das gewesen sein konnte - vielleicht, als Frau D'uissi jung gewesen war? "Nehmen wir eine Abkürzung, Mandelkern? Die Post fährt sicherlich nicht mit dem öffentlichen Nahverkehr, um Briefe nach Düsenschloss zu bringen." Mandelkern stellte sich auf seine Hinterbeine und hielt sich mit scharfen Krallen an Magdalenas Ohr fest, als erklärte:"Die Post hat seit Jahren Probleme ihre Sendungen rechtzeitig zuzustellen. Zum Schloss selbst hat sich schon so mancher Postbote verlaufen oder verletzt, seit die Wege versperrt sind und nicht geräumt werden. Aber wenigstens kam die Post noch an, auch über den öffentlichen Nahverkehr." Er rollte mit den Augen und fügte hinzu:"Die Bahn fährt genau drei Stationen unterirdisch, das ist wirklich ein Scherz. Naja, jedenfalls stimmt was mit dem Zug nicht und seither bleibt jegliche Nachricht in den Gärten von Lapadu liegen."
"Aber wie sollen wir denn dort hinkommen?", fragte Magdalena verdutzt. Mandelkern hob die Arme. "Ich sagte doch, dass wir wahrscheinlich nicht weit kommen. Dass wir es bis hier hin geschafft haben, ist ja schon ein Wunder." 
Magdalena seufzte und blickte Inga nach, die sich die Informationstafeln genauer ansah. Brand schritt mit seinen kurzen Beinen am Gleis entlang und schaute sich ebenfalls um. Bisher waren sie die einzigen am Gleis.
Frau D'uissi ließ sich auf einer der Bänke nieder und seufzte. Sie wirkte erschöpft und etwas verloren und Magdalena setzte sich neben sie. Gemeinsam schauten sie auf die Anzeigetafel, die über ihnen hing. Abfahrten zu den nächsten Vororten flimmerten in kantiger Schrift über den Bildschirm. In einem Abstand, der mehr drei als einer Minute glich, aktualisierte sich die Zeitanzeige bis zur nächsten Abfahrt. Magdalena beobachtete ihren sich verlangsamenden Puls und betrachtete das Schild, das vor ihnen an der Wand hing. „Düsenschloss Hauptbahnhof“, las sie.
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas.
Nur Mandelkerns ungestümes Kramen in seinem Rucksack war zu hören und Ingas Schritte. Sie begann, leise mit Brand zu sprechen, der ihr mit rauer Stimme antwortete.
Daher hörten sie das Geklimper und die Stimme sofort, die über ihnen erschallte. Beides klang noch etwas ungeübt, aber nicht zu schrecklich, als dass man sich hätte die Ohren zuhalten müssen. Die Musik hallte in dem gekachelten Tunnel wider und jagte Magdalena prickelnde Schauer über den Rücken. Sie stand auf und ging zur Treppe. Dicht hinter sich spürte sie Inga und zu zweit stiegen sie die Treppe hinauf. „Prinzessin, es kommt gleich eine Bahn, die in etwa in die Nähe von Lapadu fahren sollte,“ rief Brand. „Beeil dich, so schnell kommt kein weiterer Zug.“
„Wir werfen nur einen kurzen Blick,“ erwiderte Magdalena hinunter. Die Treppe wollte gar kein Ende nehmen. Je näher sie dieser Etage kamen, desto lauter wurde die Musik, und ihnen wurde klar, dass nicht nur ein Mann sang. Ein weiterer war dabei und vielleicht eine Frau.
Als sie oben angekommen waren, fanden sie sich in einer schlauchartigen Halle wieder. Von links und rechts drang Licht in die Halle, die erheblich belebter war als die Gleise der U-Bahn. Leute jeden Alters gingen zielstrebig auf die Treppen zu den Gleisen zu, zwei gingen überraschender Weise an Magdalena und Inga vorbei zur U-Bahn und der Geruch von Filterkaffee und Frittierfett hing in der Luft. 
Ein plötzliches, aber kurzes Donnergrollen über ihren Köpfen verriet, dass hier tatsächlich Züge fuhren.
Mit dem Rücken zu den Gleisen aber saßen die Urheber der Musik, mit ihnen noch drei andere Menschen auf dem nackten Asphalt. Sie lauschten andächtig der Gitarre und dem Gesang - ein kleines Publikum von fünf Leuten hatte sein Ziel auf später vertagt und hörte ebenfalls zu. 
Magdalena ließ ihre Augen über die Szenerie wandern und genoss die innerliche Wärme, die in ihr aufstieg. Mit einem Mal fühlte sie sich leicht und sie lächelte. 
Dann fiel ihr Blick auf ein Schild, das neben einem Pappbecher vor dem Gitarristen stand. Die Beine der vielen Leute durchkreuzten immer wieder ihr Bild, sodass sie Schwierigkeiten hatte, es zu lesen. Doch viel Text war es nicht. In großen Lettern stand darauf in schönster Dichtkunst:

Wir sitzen hier
für Weed und Bier
<3 

"Schnell, wir müssen weiter, der Zug kommt gleich!" Brand stand an der Treppe und winkte sie schwer atmend zu sich. Mit einem letzten Blick auf das Schild, die Musiker und der belebten Szenerie, wie sie sonst nur in Düsenschlosses Bibliotheksflügel zur Prüfungszeit der Fall war, wandten Magdalena und Inga sich ab und stiegen die Treppe zum U-Bahnhof wieder hinab. 


________________

Die Musik, die sie gespielt haben, kennt ihr sicher. Es war diese hier.





Kommentare