4. Kapitel: Bienenwachs und Mondholzmann

Mandelkern brachte Magdalena wieder zurück in ihre Gemächer, damit sie sich für das abendliche Bankett zurecht machen konnte. 
Brand verabschiedete sich auf der Hälfte des Weges von ihnen mit dem Vorwand, noch etwas Dringendes erledigen zu müssen. Magdalena hatte sich überrascht erkundigt, ob sie ihn denn abends wieder sehen würde und Brand hatte verlegen herumgedruckst und schließlich zugestimmt. 
"Was war das denn?", fragte sie Mandelkern, als der Mondholzmann außer Hörweite davon klackte.
Mandelkern war in diesem Moment damit beschäftigt, eine ihrer Haarsträhnen mit einem schief geratenen und daher aussortierten Lockenwickler aufzuwickeln und antwortete ihr nicht gleich. "Ach, der besucht die kleine Schwester des Fürsten.Sie beschäftigt sich mit den Mondholzmännern seit sie selbst so klein war wie einer und hat einen Narren an ihnen gefressen. Ein bisschen wie ein Kleinkind, das Insekten sammelt mit der Ausnahme, dass sie es geschafft hat, sie am Leben zu erhalten." 
Er klebte den Lockenwickler mit einem Stück Klebeband fest. "Füttert sie regelmäßig mit Bienenwachs," fuhr er fort. "Das ist so ziemlich das einzige, was sie verdauen können." 

Mit jeder weiteren Treppe, neuen Etage und Art und Weise, wie ein Korridor geschnitten und ausgestattet war, formte sich in Magdalenas Kopf so etwas wie eine Karte der Villa Düsenschloss. Obwohl Mandelkern sich nach wie vor als unzuverlässiger Wegweiser herausstellte, standen sie wenige Zeit später vor der wuchtigen Holztür. Ein kleines Stück Klebeband klebte an der Klinke. 

"Ist hier eigentlich alles mit deinem Klebeband festgeklebt?", fragte Magdalena und befreite ihre Haare und anschließend ihre Hände von dem Kleber. "Sonst fällt das Schloss zusammen, Prinzessken," lispelte Mandelkern und rollte das zu Boden gefallene Gaffer wieder ein um es daraufhin sorgsam in seinen Rucksack zu verstauen. 

Die Tür ging auf und Inga steckte den blonden Kopf hinaus. "Da bist du ja!", rief sie. "Ich suche schon den halben Tag nach dir. Zum Glück hab ich den Fürsten getroffen, der sagte, du seist in den guten Händen seines engsten Vertrauten." Sie trat auf den Flur. "Aber wo ist er denn?" 
"Hier!", quäkte Mandelkern unverkennbar und verbeugte sich spöttisch. 
"Ja, Mandelkern hat mich schon etwas herum geführt," erwiderte Magdalena. "Eigentlich wollten wir nur zur Küche. Auf dem Weg haben wir uns etwas verlaufen." 
Sie ging an Inga vorbei in ihr Zimmer. Mandelkern watschelte mit hoch erhobenen Fäusten des Protests hinterher. "Was soll das denn heißen, die Tussi von Düsenschloss hat uns doch klasse versorgt?!"
Inga betrachtete nur den dicken Hamster und schüttelte den Kopf. "Komm, wir machen uns für das Bankett fertig. Ich habe gehört, hier beginnen Festlichkeiten bereits am Nachmittag, dafür sind wir bereits spät dran." 
Mandelkern zog an ihrem Kleid. "Eine akademische Viertelstunde könnt ihr durchaus noch einrechnen. So wie die Prinzessin aussieht, kann sie die sicher gebrauchen!" Er kicherte frech. 
"Und unterwegs hast du noch behauptet, es sei egal, wie man in Düsenschloss herumläuft. Hier gäbe es keine oberflächlichen Menschen, weil alle genug mit sich selbst beschäftigt sind." Magdalena schob ihn unsanft mit dem Fuß wieder auf den Flur. "Das ist ja auch richtig, Prinzessin, aber ich bin nun mal ein Hamster!", rief er noch, bevor Magdalena die Tür schloss. 
"Warte mal hier draußen, Hamsterbacke. Dies ist eine Bitte deiner Lady." 
Mandelkerns Antwort hörte sie nicht mehr. 

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Das Bankett fand in der großen Eingangshalle der Villa statt. 
Der Duft von schwerem Glühwein hing in der Luft und vernebelte Magdalena bereits während der Vorspeise die Sinne. Allerdings kam ihr das ganz gelegen, denn die Gesellschaft des Abends war eine besondere; die gesamte Familie des Fürsten war zusammen gekommen, um die neue Fürstin zu empfangen und in die Familie aufzunehmen. 
Da waren sie also, vier Geschwister an der Zahl, davon zwei Halbgeschwister aus erster Ehe des Vaters Düsenschloss. Magdalena hatte sich bereits bei der Vorstellung des Fürsten in ihrer Heimat darüber gewundert, dass ihr Gemahl der Jüngste aus der Familie war und das Erbe als Thronfolger antrat. 
Doch als sie die Geschwister genauer kennen lernte, sah sie ein, dass keiner von ihnen geeignet war. Jeder von ihnen schien eine andere Bestimmung für sich entdeckt zu haben, als die, steinreich und Fürst eines ganzen Schlosses zu werden.  
Sie saßen ihr gegenüber, hielten nur das Nötigste an Konversation und hießen sie willkommen, wie es von ihnen zu erwarten war. Im Laufe des Abends schien sie kaum jemand noch zu beachten. 
Magdalena konnte darüber allerdings nur froh sein, denn sie verwechselte die Zwillinge Johanna und Hannes so oft miteinander, dass sie aus lauter Verlegenheit Johanna mit  "Johannes" ansprach. Mandelkern, der zwischen ihr und dem Fürsten an Weintrauben knabberte, zwickte sie energisch in den Arm und hörte danach gar nicht mehr auf zu kichern.
"Keine Sorge, Prinzessin," sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte. "Das geht hier fast allen so, die beiden kann keiner auseinander halten." Er streckte sich und bedeutete ihr, näher zu kommen. Sie senkte ihren Kopf und feucht sprach Mandelkern in ihr Ohr:"Das einzige, womit sie sich auskennen, ist Geld. Allerdings verprassen sie es auch gerne und bezeichnen das als Experiment. Sie wollen beweisen, dass es den Homo Oeconomicus doch gibt."
Magdalena tupfte mit einer Serviette zuerst ihren Mund, dann mit einer mehr oder minder diskreten Bewegung ihr Ohr, ab. "Was ist denn der Homo Oeconomicus?", raunte sie Mandelkern zu. 
"Irgendein Märchen, von dem ihnen ihre Mutter erzählt hat, bevor sie starb. Johanna hatte jahrelang Albträume von dem Kerl, muss wohl ein Ungeheuer gewesen sein." 
Johannes warfen Mandelkern einen argwöhnischen Blick zu und vertieften sich wieder in ihr Gespräch über den DüAX. 

Neben Johannes saß der älteste Sohn des Ehepaars zu Düsenschloss. Er war ein in sich gekehrter Mann mit grauem Vollbart, aber sorgsam gestutzten Haaren. Auf der Nase saß eine Brille mit kreisrunden Gläsern aus einem hölzernen Gestell. 
Sein Name war Gerhard Mercator. Als er sich ihnen allen vorgestellt hatte, war Inga sehr verlegen geworden. Über Tessas Lockenkopf hinweg hatten sie ihr zu verstehen gegeben, dass sie Gerhard sehr interessant fand. "Weißt du, als du im Schloss unterwegs warst, habe ich meine eigenen Nachforschungen getrieben," sagte sie dann, mit einem verschwörerischen Lächeln auf den Lippen. "Soweit ich herausgefunden habe, ist er ein sehr geheimnisvoller Mensch, tüftelt an eigenen Erfindungen und ist wahrscheinlich verstrahlt. Aber er ist der Mann, der damals Google Maps erfunden hat!" 
Magdalena hob die Augenbrauen und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
Gerhard verabschiedete sich bereits beim Hauptgang mit verwirrtem Gesichtsausdruck und einer gestammelten Entschuldigen. Inga formte nur mit den Lippen das Wort "verstrahlt". 

Übrig blieben noch der Fürst selbst, die zu Gast geladene Frau D'uissi und seine leibliche Schwester. Auf ihrem Schoß saß tatsächlich Brand und winkte Magdalena fast vergnügt zu. Etwas befremdet hob Magdalena ebenfalls die Hand. Sie betrachtete die Frau mit den roten Haaren einer Hexe und bei Brands hölzernem Lachen lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie beschloss, einen Bogen um sie zu machen. 
Mandelkern zupfte sie am langen Ärmel ihres Kleides. "Ich sage doch, die Mondholzmännchen fressen ihr aus der Hand. Sie spricht dauernd darüber, wie sozial dieses vergiftete Völkchen doch ist und liegt DJ ständig in den Ohren, sie vermehren zu lassen." 
"DJ?" Magdalena verschluckte sich fast an ihrem Glühwein. Der Fürst wandte sich zu ihr. 
"Ja, bitte, Machda? Bekommt dir der gute Wein nicht, du armes Ding?" Sie starrte ihn nur an. "Der Fürstin ist dein Spitzname noch nicht bekannt," erklärte Mandelkern schnell. Der Fürst lachte meckernd. Insgesamt war er kein schlecht aussehender Mann. Sein Gesicht war breit, das Haar voll, der Körper gut gebaut. Doch Magdalena wusste, ihre Liebe würde einige Zeit brauchen, um für ihn zu erwachen, denn er wirkte herzlich desinteressiert an ihr. 
Da stets neue Gefolgschaft in die Villa Düsenschloss ein- und auszog, lag es auch nicht an an ihr, einen Thronfolger mit dem Fürsten zu zeugen. Dahingehend waren die Gesetze im Düsenschlosser Land sehr liberal, weshalb sie der Verbindung ohne weitere Bedenken zugestimmt hatte. 
Gut verstehen wollte sie sich dennoch mit ihrem Gatten. 
Sie gewann bereits in den ersten vierundzwanzig Stunden in der Villa Düsenschloss den Eindruck, dass auch der Prinz andere Pläne gehabt hatte, als Fürst zu werden. Leider war ihm dieser Wunsch aberkannt worden, wie ihr Mandelkern flüsternd erzählte. 
Seinen Schilderungen zufolge träumte Dustin-Joel - ach, daher DJ! - von einer großen Karriere als Schauspieler und Stand-Up Comedian. 
"Im Gegensatz zu seinen anderen Geschwistern hat er sein Talent nicht beweisen können," erklärte Mandelkern. "Dafür hat er ihnen einige wichtige Ämter übertragen, sodass sie im Grunde den Laden schmeißen. Johannes haben die Kasse, Gerhard regelt die meisten Regierungsgeschäfte. 
Im Gegenzug befreit er sie von ihren Pflichten als Thronerben - an Tagen, an denen er ihnen das besonders übel nimmt, organisiert er Improvisationstheater, das so schlecht ist, dass alle kurz nach Beginn den Raum verlassen. Bloß Nicki-Serlena bleibt sitzen." Mandelkern wies auf die Hexe. 
"Dustin-Joel, Nicki-Serlena. Das sind ja," sagte Magdalena und Inga ergänzte schnell, "interessante Namen!" "Ja, ganz klasse!", bekräftigte Magdalena. Mandelkern schnaubte nur und widmete sich wieder seinen Weintrauben.

Insgesamt konnte Magdalena den Abend genießen. Sie ließ sich von Frau D'uissi zu einem feurigen Schnaps überreden und hörte ihren hochzeitsfiebrigen Erzählungen zu.
Kurz, nachdem Magdalena sie mittags verlassen hatte, hatte sie Nachricht darüber erhalten, dass ihr Verlobter Tutu bereits in einer Woche zu Besuch kam. Schon bei dem Gedanken bekam sie rote Stressflecken. 
Magdalena legte ihr beruhigend die Hand auf den breiten Arm und hob sie schnell wieder, als Frau D'uissi erschauderte. "Nur der Stress, Liebes," sagte sie. "Ich weiß noch nicht, wie ich Tutu bei seinem Aufenthalt unterhalten soll! Und schau mich doch mal an, ich bin so fett!"
"Also mir würde das ein oder andere einfallen," fiel Inga ihr breitmäulig ins Wort und Mandelkern stieß ein tadelndes Pfeifen aus. "Ich bin sicher, dass Tutu mit Ihnen nicht langweilig wird. Wir finden schon etwas für Sie! Vielleicht gehen Sie draußen spazieren?", sagte Magdalena zuversichtlich. Zweifelnd sah die Tussi von Düsenschloss sie an. 
"Dieser Nebel legt sich nicht, liebe Magdalena," erwiderte Frau D'uissi. "Der gehört zur Villa wie meine Schornsteine zum Himmel. Wenn die Wege zu den Gärten von Lapadu nur frei wären." 
"Wo sind denn die Gärten von Lapedu?", fragte Magdalena erstaunt und sah Mandelkern an. "Davon hast du mir ja gar nichts erzählt." 
"Lapadu," korrigierte Mandelkern. "Und wenn du richtig zugehört hättest, wüsstest du, dass die Wege versperrt sind und man dort eh nicht hinkommt. Wenn ich dir also davon erzählt hätte, hättest du dir in den Kopf gesetzt, dort trotzdem hin zu wollen, weil der Name so witzig und exotisch klingt." 
Er sah in den Gesichtern der lauschenden Menschen Interesse aufleuchten und verstummte. 
"Ja, klasse." 

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