3. Kapitel: Die Tussi von Düsenschloss -Teil 1 -

"Wie weit ist es denn noch?" Magdalena konnte sich den quengeligen Unterton in ihrer Stimme nicht verkneifen. Der Korridor, dessen Verlauf sie bereits seit einer Weile folgten, wollte kein Ende nehmen. Statt eine Antwort zu geben drückte Mandelkern seine feuchte Nase an ihre Wange und hinterließ einen Sabberfaden. Ärgerlich und angeekelt wischte Magdalena ihn weg.
"Klasse!", murmelte sie und stapfte weiter. Mandelkern gluckste.
Als sie das Rauschen zum ersten Mal wahrgenommen hatte, klang es noch dumpf und schrecklich weit weg. Nun warfen die Wände das Geräusch hin und her, vervielfachten dessen bedrohliche Gewaltigkeit und Lautstärke. Magdalena war ein wenig beunruhigt; bisher war ihr nur der bizarre und neurotische Hamster über den Weg gelaufen, der ihr - von seinen Absurditäten mal abgesehen - zumindest wohlgesonnen schien. Wer weiß, wo er sie hin brachte ... andererseits konnte jemand, der die Tussi von Düsenschloss genannt wurde, ihr nicht wirklich Angst einflößen.
Was also sollte der ganze Lärm?
Magdalena wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Guck, jetzt brauchst du kein Feuerzeug mehr," sagte Mandelkern. "An manchen Tagen heizt die Tussi von Düsenschloss das ganze Haus. Leider ist sie nicht sehr zuverlässig. Selbst der Fürst kann sie nicht dazu überreden, eine angenehme Temperatur beizubehalten. Es riecht bei ihr immer sehr streng, aber sag ihr das bloß nicht! Du wirst sehen, sie ist sehr temperamentvoll."
Er rieb sich die kleinen Pfoten. "Hoffentlich gibt es dort etwas zu essen, ich habe schon ein Loch im Bauch von der ganzen Lauferei!" Magdalena wusste darauf keine Antwort.
Das Ende des Korridors war nun nur noch wenige Schritte entfernt. Sie fühlte sich, als wäre sie den halben Tag gelaufen - so groß konnte doch kein Haus sein?

Sie betraten eine in Dunst gehüllte Halle. Die Decke hing recht tief und in der Luft lag ein unangenehmer Geruch voller freigesetzter Chemikalien. Der Lärm tosender Wassermassen war omnipräsent und Magdalena presste sich die Hände auf die Ohren. Dabei hätte sie fast Mandelkern von ihrer Schulter gefegt. Er krallte sich wie zum Dank fester in ihre Schulter. "Magda, mach' keinen Quatsch! Wenn ich in einen der Kessel falle, bin ich Mandelmus."
Unwillkürlich wich Magdalena ein paar Schritte auf den Korridor zurück. An unzähligen Stellen im Boden - einige mit dem Durchmesser eines Pfennigstücks, andere so groß wie die Teller, von denen Magdalena am Vorabend noch gegessen hatte - waren Schächte eingelassen, die zwei Meter in die Tiefe führten. In ihnen brodelte, zischte und kochte es. Schmale Kanäle verbanden den einen Schacht mit dem nächsten bishin zu einem großen Becken von rotbraun leuchtender, zähflüssiger Masse am linken Rand der Halle.
Dort war auch die Quelle des ganzen Lärms: Oberhalb des bestimmt zehn mal zehn Schritte großen Beckens stürzten sich von links und rechts Wassermassen in die Tiefe wie ein einziger Wasserfall.
Wie tief das Becken wohl sein mochte wollte sich Magdalena gar nicht erst ausmalen.
Was genau machte sie überhaupt hier? Dies sah nicht aus wie ein prinzessinnenfreundlicher Ort. Beunruhigt tat sie noch einen Schritt zurück, nahm Mandelkern von ihrer Schulter und sagte zu ihm:"Ich lerne ja gerne die Bewohner meines neuen Zuhauses kennen, aber nicht unter Einsatz meines Lebens. Sag mir jetzt eines: wo geht's zur Küche? Ich habe einen riesen Hunger!" Bei jedem Wort ihrer Frage schüttelte sie ihn leicht, um den Ernst der Lage zu unterstreichen. Mandelkern hob beschwichtigend die Pfoten. "Mach dir nicht so viele Sorgen, Prinzessin. Hier irgendwo," er schnupperte, blickte sich suchend um, "hier irgendwo hängt ein Sicherheitshelm. Wenn du den trägst, passiert dir nichts. Ah, da!"
Er zeigte mit dem Finger auf die Wand rechts von Magdalena. Tatsächlich, dort hingen drei graue Helme. Zweifelnd sah Magdalena ihn an. "Der bewahrt mich aber nicht davor, in eins dieser Löcher zu fallen." Mandelkern sah sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. "Bist du denn des Wahnsinns, Frollein Magda? Selbstverständlich gibt es einen Weg, der nach düsenschlosslichen Brandschutzbestimmungen als weitestgehend sicher zertifiziert ist, den wir benutzen können."
Magdalena hob die Augenbrauen. "Weitestgehend sicher?" "Naja, er ist bestimmt nicht barrierefrei," sagte Mandelkern beinahe zerknirscht, "aber zertifiziert!"
"Ich bin bescheuert," dachte Magdalena bei sich, als sie den Helm aufsetzte und versuchte, einen Weg auszumachen, der an den brodelnden Schächten vorbei führte, auszumachen. "Nein, wir sind hungrig," Mandelkern kletterte auf ihre Schulter zurück. Mit zwei Streifen Klebeband befestigte er seine Beine an ihrer Schulter und klammerte sich zusätzlich fest. "Dort vorne ist ein Felsen. Siehst du ihn, Prinzessin? Die Wendeltreppe darauf führt in die nächste Etage. Dort ist die Tussi von Düsenschloss."
Mit kleinen Trippelschritten und einigen drohenden Nahtoderfahrungen durch Gleichgewichtsverlust erreichte Magdalena keuchend besagten Felsen und klammerte sich an die Treppe.
"Ich hoffe, die Tussi von Düsenschloss wird meine neue beste Freundin! Diese Strapazen ist sonst niemand wert!", brüllte sie Mandelkern ins Ohr. Der Schweiß lief in Strömen ihren Körper hinab und der Lärm war nahezu unerträglich. So verstand sie seine feuchte Antwort zum Glück nicht. Sie kletterte das schmale Treppchen in Windeseile hinauf. An der Decke angekommen stieß sie eine Dachluke auf und hievte sich auf die nächste Etage.

"Na, das war doch gar nicht so schlimm, oder?" Mandelkern riss die Klebebandstreifen mit einem Ruck ab und wickelte sie sorgfältig wieder auf. "Sorry!"
Magdalena stand auf solidem metallischen Grund, von der Hitze in der unteren Etage war nichts zu spüren. Auch das Wasser rauschte leiser, nur hier und da stiegen Rauchsäulen auf.
Sie schloss die Dachluke, streifte sich den Helm vom Kopf und sah sich um. Das erste, worauf ihr Blick fiel, waren Eisenbahnschienen. Überall waren sie, verliefen kreuz und quer, sammelten sich auf einer Drehscheibe, verschwanden inmitten einer Wand. Loren standen darauf, manche gefüllt mit schwarzen Steinchen, andere Ladeflächen trugen metallene Rollen. Es gab sogar Schienen, die sich wie Achterbahnen in die Höhe schraubten, tief fielen und im Boden versanken.
Hinter der kuppelförmigen Decke glaubte Magdalena, die Sonne hindurch schimmern zu sehen. Wolken voller Wasserdampf sammelten sich unterhalb der Kuppel und flossen langsam durch einen Schornstein hinaus ins Freie. Hatte sie ähnliches nicht erst gestern gesehen, als sie die Türme von Düsenschloss in der Ferne ausmachen konnte? Rauch, der still, aber weiß in der Nacht gen Himmel aufstieg ...

Eine schrille Stimme riss sie aus ihren Gedanken. "Da ist sie ja, die Prinzessin von Düsenschloss!"
Magdalena fuhr herum und sah die Tussi von Düsenschloss auf sich zukommen. Magdalena hatte keine Zweifel, dass sie eben diese war; eine groß gewachsene Frau, ausladend gebaut mit kirschroten Wangen und dunkel geschminkten Augen. In ihren schwarzen Haaren waren die metallenen Röllchen, die Magdalena auf den Ladeflächen entdeckt hatte wie Lockenwickler eingewickelt. Trotz ihrer kugelrunden Figur glitt sie federleicht über den Boden hinweg.
"Ja, die bin ich," sagte Magdalena. "Und du bist ...", bevor sie weiteres sagen konnte, sprang Mandelkern von ihrer Schulter auf die Frau zu und verbeugte sich vor ihr. "Frau D'uissi! Ich bringe Ihnen die gnädige Frau Prinzessin. Nun ja, seit dem gestrigen Abend Fürstin von Düsenschloss." Frau D'uissi grinste ein Doppelkinn und reichte Magdalena ihre Hand.
Sie nahm sie und biss sich auf die Lippen, als die Tussi von Düsenschloss fest zudrückte.
"Willkommen auf Düsenschloss, verehrteste Fürstin. Ich freue mich sehr, dass Sie dem Norden des Schlosses einen Besuch abstatten. Hier gibt es viel zu sehen, wissen Sie!" Sie bedeutete ihnen, ihr zu folgen und Mandelkern machte eine vielsagende Geste in Magdalenas Richtung. Sie seufzte, packte den kleinen Hamster und setzte ihn sich wieder auf die Schulter. Zufrieden pfiff er durch die Schneidezähne.

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