2. Kapitel: Magdalenas Mandelkern

Es war noch früh am Morgen, als Magdalena das erste Mal die Augenlider zu öffnen versuchte. Bleischwer waren sie und das mattgraue Licht, das durch die dicken Vorhänge fiel, überzeugte sie binnen Sekunden, sich doch noch einmal genüsslich umzudrehen.
Eine Stunde später erwachte sie gerädert aus nebeligen Träumen im Halbschlaf und setzte sich gähnend auf. Ihr Blick fiel auf Inga und ihre Schwester Tessa, die noch tief und fest neben ihr schliefen. In dem riesigen Himmelbett fanden alle drei genug Platz, sodass sie am Abend zuvor darauf bestanden hatte, dass sie alle darin schlafen würden. Tessa schnarchte leise vor sich hin und Magdalena lächelte.
Die Männer, die für ihren Begleitschutz bereit gestellt worden waren, hatten an des Prinzen Tafel sämtliche Bierfässer geleert und würden in zwei Tagen in ihre Heimat zurück fahren. Sonst war Magdalenas Gefolge recht klein gewesen. Außer Inga und Tessa würde keiner mit ihr hier wohnen bleiben.

Magdalena schüttelte den Kopf, um den Neid auf die Männer, die zurück kehren durften und das Selbstmitleid loszuwerden. "Sei nicht albern", dachte sie bei sich und rieb sich über die Arme. Kleine Wölkchen bildeten sich vor ihrem Mund und sie fror.
Schnell zog sie die Decke enger um sich. Inga grunzte prompt, langte nach der Decke und drehte sich beleidigt um.
"Großartig!" Magdalena stand schnell auf, hüllte sich in den bereit gelegten Morgenmantel und stakste zum Kamin. Daneben stand ein Korb mit reichlich Holz und Anzündern, nur kein Feuerzeug. Magdalena fluchte leise und trippelte zurück zum Bett.

Dort fand sie glücklicherweise ihre Hausschuhe und schlüpfte hinein. Sie huschte über den kühlen marmornen Boden zur Flügeltür und schloss sie vorsichtig hinter sich.
Im Flur war das Licht schummrig und feine Staubpartikelchen wirbelten durch vereinzelte Sonnenstrahlen. Magdalenas Zimmer lag am Ende eines langen Korridors im vierten Stock. Links taten sich Türen und weitere Gänge auf, doch in der Mitte führte eine Treppe hinauf und hinab in die anderen Stockwerke. Zu Magdalenas Rechten erstreckte sich eine von Vorhängen bedeckte Fensterfront.

Einem aufkeimenden Verlangen nach Licht nachgebend schob sie die Vorhänge zur Seite und riss eines der Fenster auf. Kühler Wind strich ihr über die Wangen und Magdalena ließ den Blick über den Vorgarten der Villa schweifen, der unter ihr in der Sonne lag. Nh hing Dunst über dem Fluss in der Ferne, doch Magdalena konnte die knorrigen, alten Pappeln, die dort vor der Villa standen, gut erkennen. Sie säumten ein Labyrinth aus Kieswegen, zwar säuberlich geharkt, aber ohne ersichtlichen Sinn. Wild wachsende Büsche und hohes Gras standen dazwischen auf unebenem Boden.

Irgendwann empfand sie den Wind, der zuvor erfrischend gewirkt hatte, als geradezu eisig und schloss das Fenster. Sie wandte sich zur Treppe, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.
"He, Vorsicht!", quäkte plötzlich eine Stimme. "Sollte die Prinzessin etwa ein Trampeltier sein, dem es an jeglicher Anmut mangelt?!" Magdalena zuckte zusammen und guckte sich um, aber da war niemand. "Wer beschimpft mich hier und zeigt sich nicht?", murmelte sie und kniff die Augen zusammen.
"Blind bist du wohl auch noch?"
"Schnabel jetzt, Kermit. Zeig dein Froschgesicht!" Magdalena ballte ihre Hände zu Fäusten, bereit, dem Träger der Stimme eins auf die Rübe zu geben. Ihre Sinne wurden mit einem Mal scharf und sie hörte ihr Herz höher schlagen. Sie hörte ein Ratschen, dann ein Schmatzen, schließlich spürte sie etwas sehr Unangenehmes an ihrem Bein. "Au, spinnst du?!"
Es war kein Frosch, sondern ein kleines Nagetier, einem Hamster nicht unähnlich, das vor Magdalenas Füßen saß. Es hielt ein Stück Klebeband in der Pfote. Seine Backen waren, obwohl es so hämisch wie grausam grinste, dick aufgeplustert.

Kleine, feine Härchen hingen an der Klebefläche des Klebebands und Magdalena rieb mit ihrem Finger über den Knöchel, den das bösartige Wesen gerade professionell enthaart hatte.
"Warum?!", fragte sie das Ding, mit etwas Pipi in den Augen. Wütend wischte sie sich übers Gesicht.
Das Hamstertierchen entblößte seine Schneidezähne, als es antwortete:"Nur so!"
Es faltete den Streifen Klebeband zusammen und steckte es in einen kleinen Rucksack, den er auf dem Rücken trug. Dann strich es sich selbstgefällig über die Barthaare und schnupperte an Magdalena, die immer noch am Boden hockte und wütend das Tier anstarrte.
"Ich bin Mandelkern", quäkte es. "Was'n das für ein Name?" Sie hockte sich auf den ausgetretenen Teppich neben Mandelkern.
"Und deiner? Ich hab' gehört, der Prinz nennt dich nur Magda," sagte Mandelkern und nuschelte das g zu einem rauen ch. "Maaaachda!", sagte er noch einmal. "Das klingt auch nicht gerade schön."
"Ja, das stimmt," erwiderte Machda, äh Magdalena und zuckte zusammen bei der Erinnerung an die Begegnung mit dem Prinzen am Vortag. "Hat er dir einen seiner grandiosen Witze erzählt?", fragte Mandelkern weiter und hockte sich neben sie. Er begann, seinen Rucksack auszuräumen. Neben einer Miniaturversion einer hochwertigen Gaffer Tape-Rolle und mindestens drei Rollen Kreppband brachte er noch Eddings und Textmarker zu Tage.

Seine Pfoten untersuchten die Gegenstände genau, manchmal roch er an daran oder biss in eine der Rollen. In Gedanken entschied Magdalena, dass es sich wohl doch um einen vollwertigen Hamster handeln musste. Zwar hatte sie noch nie einen gesehen - aber mit diesen fast bis zum Boden hängenden Hamsterbacken konnte sie nicht falsch liegen. Und dick war er!
"Warum sammelst du das alles?", erwiderte sie, statt auf seine Frage einzugehen. Mandelkern sah sie auf einmal mit großen Augen an, dann auf seine Habseligkeiten und zuckte die Achseln:"Ich mag solchen Kram einfach. Besonders Gaffer. Es ist so praktisch!" Der Blick, den er ihr zuwarf, war wieder hämisch und Magdalena zog schnell den Morgenmantel enger um sich. "Wage es ja nicht," drohte sie. Mandelkern schob seine Besitztümer zurück in den Rucksack und schnürte ihn sorgfältig zu. Umständlich kam er auf seine Hinterpfoten. "Warum bist du eigentlich schon wach, Prinzessin? Brauchst du nicht noch ein paar Stunden Schönheitsschlaf?", fragte er.
"Ich bin nur auf der Suche nach einem Feuerzeug," sagte Magdalena seufzend und erhob sich. Vielleicht trete ich ja mal ganz aus Versehen auf das Tierchen drauf, dachte sie und kicherte.
"Trag' mich, dann bring ich dich zu einem," sagte Mandelkern und hob die Arme. Magdalena machte einen großen Schritt um ihn herum - so schnell wollte sie dann doch nicht ihre Morgengarderobe durch etwaige Blutflecken ruinieren. "Och, komm schon," quengelte Mandelkern und seine quäkende Stimme schlug ins nasale über. "Bissken Gnade, Prinzessken!", rief er ihr hinterher. Magdalena drehte sich nach zehn Schritten um und sah ihn stirnrunzelnd an. "Komm her, dann trage ich dich," sagte sie schließlich und Mandelkern watschelte auf sie zu. Als sie ihn mit einer Hand packte und hochhob, beschwerte er sich lautstark und wollte lieber auf die Schulter gelegt werden.
"Sieht niedlicher aus!", lautete sein Argument. "Als ob!", erwiderte Magdalena und pflanzte den dicken Hamster auf ihre rechte Seite. "Ich meine dich, Prinzessin," sagte er daraufhin nur trocken.

Magdalena streifte an diesem Morgen das erste Mal durch die Villa Düsenschloss, begleitet von einem Anweisungen kreischenden Hamster auf ihrer Schulter. "Hier links, äh, nee," rief er beispielsweise und Magdalena attestierte ihm nach drei weiteren Fehlleitungen eine Rechts-Links-Schwäche. "Wo bringst du mich eigentlich hin?", fragte Magdalena. "Ich wollte eigentlich nur das nächste Zimmer mit einem Ofen suchen. Oder die Küche."
"Ach, das ist doch langweilig," sagte Mandelkern. "Außerdem sind Feuerzeuge gefährlich und von Streichhölzern fange ich gar nicht erst an. Nein, ich mache dich mit jemandem bekannt, der interessant und spannend ist und dein Problem löst. Ohne, dass du die Bude abfackelst."
"Und wer soll das bitte sein?" Magdalena schaukelte mit den Armen, sodass Mandelkern ordentlich durchgeschüttelt wurde. Er krallte sich fester in ihre Schulter und streckte seine rosa Zunge raus.
"Die Tussi von Düsenschloss lernst du zwar so oder so kennen. Aber wenn ich sie dir bekannt mache, hat sie direkt den besten Eindruck von dir!"
"Die Tussi von Düsenschloss?" Magdalena runzelte erneut die Stirn.
"Hey, Prinzessken, kein Grund zur Sorge. So wie ich dich einschätze macht die dir keine Konkurrenz." Sie tätschelte seinen Kopf etwas zu fest und trabte weiter, seinen wirren Anweisungen folgend. In der Ferne hörte sie ein Rauschen, das zu einem unheimlichen Donner zusammen zu wachsen schien ...

Kommentare